Die Idee der Solidarität und Wohnen heute?

Derzeit stehen die Zeichen der Zeit nicht gerade auf „Solidarität“. Hat die große Idee der Solidarität auch in der Wohnungspolitik, für Wohnbaugenossenschaften und für das Gemeinwesen allgemein noch Relevanz? Gedankensplitter vor dem Hintergrund aktueller Diskurse.
RAIMUND GUTMANN

Das Modell vom „Wohnraum für alle“ mit dem hehren Ziel einer gerechten Ressourcenverteilung gerät durch die neoliberalen und rechtspopulistischen Politiken zunehmend unter Druck. Angesichts der wachsenden gesellschaftlichen Spaltungen, der globalen Krisen und massenhaften sozialen Ausgrenzungen ist daher ein allgemein gesellschaftlicher Diskurs zum Thema soziale Gerechtigkeit und „Solidarität“ in allen Lebenssphären mehr als fällig. Einiges tut sich bereits: Die AK-Wien initiierte ein Forschungsprojekt zum Thema „Gerechte Stadt muss sein“, das Kreiskyforum bildete einen Schwerpunkt „Solidarische Stadt“ und soeben wurde in Wien eine universitäre Forschungsgruppe für zeitgenössische Solidaritätsstudien gegründet.

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Gerade ist auch ein Buch eines deutschen Soziologen mit dem Titel „Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee“ erschienen, das die Chancen und Widersprüche von Solidarität heute klar und mitleidlos benennt. Stehen wir also vor einer Renaissance dieses scheinbar schon entsorgten Begriffs ‚Solidarität‘, der einmal eine große Idee war?

Durch die soziodemografischen Herausforderungen, die wachsende soziale Ungleichheit und die vielfältigen Wohnungsnöte tritt der Lebensbereich des Wohnens immer mehr in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. „Housing for All“ ist zu einem europaweiten Slogan geworden. Sollen die Verarmungs- und Ausgrenzungsprozesse gestoppt werden, müssen die heutigen Möglichkeiten von Solidarität wieder bewusst gemacht werden.

Solidarität kultivieren

Allgemein gilt Solidarität als eine Sammelbezeichnung für menschliche Freundlichkeit, Nachbarschaftshilfe, Empathie, allgemeines Wohlwollen und sozialstaatliche Fürsorge. Eine definitive Begriffsbestimmung von Solidarität ist schwierig, weil er immer ein WIR voraussetzt und dieses oft zu Exklusion statt Inklusion führt. Solidarisch ist u.E., wem der Zustand des Gemeinwesens nicht gleichgültig ist und wer in seinem Handeln auch eine Verpflichtung fürs Ganze sieht. Historisch betrachtet war Solidarität immer eine Richtschnur für sozialreformerische Bewegungen, die sich auch im alten Genossenschaftswesen positiv niederschlug. Der Wohlfahrtsstaat stellt als Gemeinschaft der Beitragszahlenden eine Form institutionalisierter Solidarität dar, in dem niemand mit Versorgungsbedürftigkeit seinem Schicksal überlassen wird. Dabei ist jedoch der Staat allein der Gerechtigkeit verpflichtet, d.h. der Zuweisung legitimer Anrechte. Die Zivilgesellschaft kann dagegen Solidarität kultivieren, wobei diese jedoch den Sozialstaat nicht neoliberal ersetzen darf.

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Solidarität braucht Strukturen, damit solidarisches Handeln nicht zufällig und willkürlich erfolgt, sondern auch längerfristig und sozial nachhaltig wirken kann. Solidarität ist die Antwort auf die Frage: Wie kommen wir miteinander weiter?

Ein Grundsatz von Solidarität ist auch, dass es ohne Eigennutzen keinen Gemeinnutzen gibt. Obwohl alle Bürger ein objektiv gemeinsames Interesse daran haben, einen kollektiven Gewinn wie z. B. durch ein allgemeines Recht auf leistbaren Wohnraum zu erlangen, haben sie als Einzelne doch kein gemeinsames Interesse daran, die Kosten für die Beschaffung und die Pflege dieses Kollektivgutes zu tragen.

Wohnsozialisation notwendig

D. h. es muss für den Einzelnen auch ein wahrnehmbarer Nutzen herausschauen. Heute muss sich das Motiv ‚Solidarität‘ nach Meinung der Fachleute auch aus dem ICH und ohne vorgegebenes Kollektiv entwickeln, denn Klassen oder Berufsstände wie früher gibt es nicht mehr…

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